Beziehungssoziologie des Geldes
Geld ist ein Schlüsselelement moderner Gesellschaften – ohne die Konstitution und die Aneignung von Zahlungsfähigkeit geht nicht viel. Geldbesitz und ein funktionierendes Geldsystem sind Grundbedingungen für Erwartungsstabilität und individuelle Daseinsentwürfe, eine kontinuierliche Geldeinnahme und Geldausgabe ist Teilhabe- und Teilnahmebedingung fast aller gesellschaftlicher Praktiken und Prozesse. In Geldgesellschaften ist Zahlungsfähigkeit eine primäre Quelle für Handlungsfähigkeit. Die Soziologie hat das Geld in theoretischer Hinsicht zumeist als wertvolles Eigentum untersucht. Es wurde als ein allgemein begehrtes und deswegen im Austausch akzeptiertes Tauschmittel oder Zahlungsmedium thematisiert. Neuerdings etabliert sich allerdings eine alternative Perspektive. Hier wird Geld nicht mehr als Vermögenswert und Eigentum untersucht, sondern als Praxis von Verschuldung und Schuldentilgung. Wer sich für Geld interessiert, der untersucht nun also das Registrieren, Erinnern, Vergleichen und Tilgen von Vorleistungen (Kredit), die mit Verbindlichkeiten (Schuld) einhergehen. In modernen Geldordnungen wird diese Praxis durch Banken organisiert: modernes Geld besteht aus Bankschulden, genauer gesagt aus in Bankbilanzen registrierten Gläubiger-Schuldner-Beziehungen. Zahlungsfähig wird, wer Gläubigerin einer Bank werden kann. Solche registrierten Forderungen stehen nicht als solitäre Beziehungen für sich, sondern sind notwendiger Teil eines sozialen Geflechts aus sich wechselseitig bedingenden und durch den Ausgleich in Bilanzen ins Verhältnis gesetzten Verbindlichkeiten. Forderungen existieren nur als unselbstständiger Teil eines hochdynamischen Komplexes interdependenter Beziehungen. Als sozialwissenschaftlicher Begriff bezeichnet »Geld« folglich dieses Beziehungsgeflecht. Der beziehungstheoretische Blick der neueren Geldsoziologie richtet sich anders als der werttheoretische Blick deswegen auf die Bedingungen und Effekte des kontinuierlichen Zustandekommens, Erhaltens und Auflösens von Beziehungen zwischen Gläubigerinnen und Schuldnern. Immerhin, das folgt daraus, gibt es ohne (neue) Schulden kein (neues) Geld, genauso wie die Rückzahlung von Schulden die Geldmenge verringert. Das Beziehungsgeflecht gerät durch die Geldschöpfung und Geldvernichtung ständig unter Spannung. Dass ein permanent »gespanntes« System überhaupt funktioniert, ist für eine so aufgestellte »Beziehungssoziologie des Geldes« erklärungsbedürftig. Ihre Leitfragen lauten dementsprechend: Wie organisieren Kollektive aus interdependenten und riskanten Verpflichtungen bestehende Zahlungsfähigkeit? Wie funktioniert das Beziehungsgeflecht soziologisch betrachtet und welche sozialen Folgen hat seine Reproduktion – also die Schöpfung und Vernichtung von Geld durch Verschuldung und Schuldentilgung?
Publikationen dazu:
Das Versprechen des Geldes. Eine Praxistheorie des Kredits. Hamburger Edition 2017.
Von Vermögen zu Versprechen. Für eine beziehungstheoretische Soziologie des Geldes. In: Zeitschrift für theoretische Soziologie 1/2018, S. 40-61.
Zwischen Pflichten und Fiktionen. Zur politischen Dimension des Euro aus der Perspektive einer beziehungstheoretischen Geldsoziologie. In: Zeitschrift für Soziologie. 48(2019),3; S. 209-225.
Die Rückkehr des Geldes. In: Mittelweg 36 28(3-4), 2019, S. 3-49 (zus. mit Philipp Degens).
Kredit, Kapital, Kaufkraft. Dimensionen der Geldsoziologie. In: Zeitschrift für theoretische Soziologie 1/2018, S. 119-128.